Willenskraft
Als ich vor ein paar Tagen spazieren war, fiel mir eine pralle, wunderschöne Kastanie auf. Ich las sie auf und stellte erstaunt fest, dass sie angefangen hatte zu keimen. Sie hatte ihre dicke Schale gesprengt und wuchs aus sich heraus.
Zur Zeit sieht man das noch oft, vor allem bei den vielen Eicheln. Doch bei einer Kastanie hatte ich es noch nie gesehen. Und obwohl dieses Sprengen ein ganz normaler Vorgang im Kreislauf der Natur ist, berührte es mich tief. Ich schloss die Augen und hielt die Frucht sanft in meiner Hand. Es war ein wunderschönes Gefühl dieses kleine Stück Leben in meiner Hand zu halten. Ich fragte mich, wie wohl unsere Welt aussehen würde, hätten wir alle die innere Gewissheit, dass wir jede dicke Schale, jede Mauer, jedes versteinerte Gerüst sprengen könnten, wenn wir nur daran glauben.
Alles in der Natur nimmt ihren Lauf. Nichts wird hinterfragt. Nichts wird durch Zweifel im Keim erstickt. Alles wächst, gedeiht und erhebt sich in seiner schönsten Form. Wann haben wir Menschen verlernt daran zu glauben, dass auch wir aus uns hinaus wachsen können? Wann haben wir uns selbst aus dem Kreislauf herausgenommen. Wurden zu stillen Beobachter und haben den Glauben verloren, dass auch wir ein Teil des grossen Ganzen sind?
Ich kann diese Frage nicht beantworten. Und eigentlich ist es auch nicht wichtig. Wichtig alleine ist, dass wir uns fragen: Glaube ich an mich & meine Kraft? Bin ich ein Beobachter meines Lebens - oder bin ich voll & ganz mitten drin?! Übernehme ich Verantwortung für mein Leben? Und lebe ich meine schöpferische Kraft auch wirklich aus?
In der Natur geht es nicht darum immer mehr zu wollen. Immer höher hinaus zu gehen. Auch sie hat ihre Grenzen. Ein Vollmond kann nicht noch voller werden. Und auch die Sommer-Sonnenwende - der höchste Sonnenstand des Jahres - kann nicht noch höher hinaus. Alle Rhythmen des Lebens haben ihren Höhepunkt. Ihren maximalen Punkt der Ausdehnung. Worauf hin auch wieder der Rückzug & das Loslassen erfolgt. Deshalb geht es in unserem Leben auch nicht darum immer noch mehr zu haben. Noch mehr zu sein. Wir sind schon allumfassend & wunderbare Wesen, so wie wir sind.
Es geht darum ehrlich zu sein. Sich selbst gegenüber. Und sich zu fragen: Werde ich mir & meiner Natur gerecht? Bleibe ich in der festgefahrenen Schale stecken oder sprenge ich ihre Grenzen? Auch hier sollte keine Wertung stattfinden. Denn die Schale hat ihren wertvollen Nutzen. Sie schützt. Sie lässt zu, dass wohl behütet in ihr drinnen alles zur Entwicklung kommen kann. Alles an Kraft gewinnen kann. Doch sie weiss auch, wann der Zeitpunkt gekommen ist, diese Schale zu sprengen. Und weisst du, was draussen auf sie wartet? Ihr wunderbares, lichterfülltes & alles ermöglichende Leben!